15

Chère Maman, der Juni hat wundervoll begonnen, mit blauem Himmel, warmen Winden und nach Jasmin duftender Luft. Wir sind sehr froh um dessen reiche Fülle in diesem Jahr, denn in einem der angrenzenden Klöster gibt es eine Schwester, die aus einem Krug voll seiner Blüten den Duft herausziehen kann, als wäre sie eine Zauberin, eine nützliche und willkommene Häresie, so es eine solche gibt. Sie benutzt die Essenz als Grundstock, um darauf kompliziertere Düfte zu bauen, die alle die Andacht erhöhen, indem sie dem Betenden Ruhe und Frieden bescheren.

Vor drei Tagen verstauchte Seine Heiligkeit sich den Knöchel, der dem Vernehmen nach inzwischen ganz blau und gelb geworden ist, doch ansonsten blieb er unverletzt. Natürlich kann man es nicht dabei belassen; der Kardinal, der zu der Zeit bei ihm war, sagt, er sei einfach zusammengebrochen, aber ein Bischof, der ebenfalls anwesend war, sagt, die Spitze seines Schuhs habe sich im Saum seiner Robe verfangen. Jetzt haben wir Kabale zwischen einem Kardinal und einem Bischof im innersten Kreis des Papstes; man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich auszumalen, wie dieser Machtkampf wohl ausgehen wird! Getuschel über den Gesundheitszustand Seiner Heiligkeit erhebt sich nun regelmäßig bei Sonnenuntergang.

Ich hoffe, diese kleinen Neuigkeiten lenken dich ein wenig von den schrecklichen Dingen ab, von denen du jetzt umgeben bist. Doch unsere kleinen Ränke kommen deinem Los in der Bretagne mitnichten gleich. Fass dir ein Herz, Mutter, und sei so stark wie immer; Gott tut, was Ihm beliebt, und wir müssen seinen Willen als Teil eines größeren Plans sehen, dessen Weisheit wir nie werden verstehen, derer wir uns jedoch sicher sein können.

Was für eine Weisheit? In dem, was nun zu Tage trat, konnte ich keine erkennen.

Der Jasmin, von dem Jean so liebevoll sprach, musste im Norden erst noch erblühen, doch das war mir einerlei, denn ich finde seinen Geruch widerlich, vor allem in Parfüms; dann lieber noch der Gestank des Körpers, der eine bewundernswerte Ehrlichkeit besitzt. Das Sonnenlicht in der Bretagne ist immer dünner als das, mit dem der liebliche Süden gesegnet ist, die Luft ist kühler und die Düfte gedämpfter. Falls wir in dieser Hinsicht Erfolge vorweisen können, so sind es die Düfte unserer Obstgärten unter der meisterhaften Pflege von Frère Demien. Die Reste der Birnenblüten waren in den bretonischen Winden zur Erde gefallen wie verspäteter Schnee, und falls der Sommer schön bliebe, würden wir einen reichen Ertrag bekommen. Ich kann die pots de fruits schon beinahe schmecken, die unsere Tafel zieren werden, wenn die Ernte eingebracht wird.

 

Cher Jean, durch deine Augen und Worte kenne ich die Schönheit Avignons, und das hilft mir, meinen Kummer in Schach zu halten, zumindest für eine kurze Weile. Wenn ich im Herbst dorthin reise, wird mir alles schon vertraut erscheinen. Du erinnerst dich sicherlich noch daran, wie der Juni hier aussieht, aber in diesem Jahr erscheinen mir die Blumen und Bäume wunderbarer denn je, ein Geschenk, für das ich dankbar bin, denn ich fühle mich nach unseren Entdeckungen so hilflos, fühle mich, als hätte man mir meine Seele gestohlen. Diese Mission, von mir in allerbester Absicht begonnen, scheint jetzt all den Atem und das Blut und den Willen zur Selbstfortsetzung zu haben, unabhängig von meinen Wünschen. Ich bin zutiefst zerrissen; ich giere nach dem dunklen Wissen, das Jean de Malestroit enthüllt und nach meinem Wunsch mit mir teilt, und verabscheue es zugleich. Mein Wunsch, das Schicksal der verschwundenen Kleinen aufzudecken, wird überschattet von meiner Angst zu erfahren, wer sie verschleppt hat. Jeden Tag bohrt ein neuer Pfeil sich in meine Brust, und mit keiner noch so großen Kraft kann ich die Widerhaken herausziehen, die in mir schwären und mich vergiften werden, sollte ich sie nicht bald herausbekommen.

Der spitzeste dieser Herzpfeile war die wachsende Gewissheit, dass Milord Gilles nicht der Mann war, für den ich ihn gehalten hatte. Früher war er wie ein Bruder meines eigenen Sohnes gewesen, kein fehlerloser zwar, aber dennoch ein Teil meiner Familie. Er war eine der letzten verbliebenen Verbindungen zu diesem verlorenen Kind, und jetzt sah ich auch diese zerstört.

Gerüchte über dies alles verbreiten sich wie eine frische Seuche, sagte Jean de Malestroit mir eines Morgens. Wir müssen diskret sein, denn sonst bekommt Milord unnötig Wind davon. Wir dürfen ihn nicht ohne berechtigten Grund aufregen.

Damit wollte er sagen, er wolle nicht, dass Milord um die Verdächtigungen wisse, die gegen ihn erhoben wurden. Wie sich zeigte, hätte mein Bischof sich darüber gar nicht den Kopf zerbrechen müssen, denn Milord war viel zu beschäftigt mit eigenen Angelegenheiten und gab sich nicht mit allgemeinen Gerüchten ab. Er hatte zu viel zu tun, um Herzog Jeans beträchtlichen Zorn nach dem Vorfall in Saint-Etienne-de-Mer-Morte abzuwehren.

 

»Fünfzigtausend écus? Mon Dieu!«

Der Brief von Herzog Jean, der diese enorme Strafe anordnete, lag auf dem Tisch vor Jean de Malestroit, der seine Befriedigung kaum verbergen konnte.

»Das ist doch kaum zu beschaffen«, sagte ich. »All die Juwelen des Königs würden dafür nicht ausreichen. Selbst auf der Höhe seines Reichtums hätte Milord Gilles Schwierigkeiten mit diesem Betrag gehabt.«

Seine Eminenz brauchte nichts zu sagen, um seine Freude über diese neue Entwicklung auszudrücken. Sie zierte sein Gesicht sichtbarer als ein buschiger Schwanz eine Katze.

Ich ging zum Fenster, wo die Luft nicht so schal war wie die, welche mich plötzlich zu umgeben schien. Der düstere, graue Himmel war kein Trost. Während ich nach draußen starrte, hörte ich, wie Jean de Malestroit von seinem Stuhl aufstand. Er stellte sich hinter mich und legte mir die Hand auf die Schulter, als hätte er Mitleid mit mir. »Man freut sich nie wirklich, wenn jemand in Ungnade fällt, Guillemette, aber dieses Mal müsst sogar Ihr zugeben, dass es wohlverdient ist.«

Seine Tröstung hätte mir mehr bedeutet, wenn seine Schadenfreude weniger offensichtlich gewesen wäre. Ich konnte nicht begründet einwenden, dass diese Strafe unangemessen sei, aber sie gab Anlass zu anderen Sorgen, darunter die einer möglichen gewaltsamen Erwiderung von Milords Seite. »Der Mann ist ein Krieger«, sagte ich. »Wenn man ihm einen Hieb versetzt, wird er sicherlich seinerseits mit einem kräftigen Hieb antworten.«

Mein Bischof konnte ein aufkeimendes Lächeln gerade noch unterdrücken. »Ohne Kredit ist der Mann gelähmt, und bei dieser Strafe, die auf ihm lastet, wird niemand ihm auch nur einen sou leihen. Wir werden sehen, wie er reagiert, wenn er die Kosten aus seiner eigenen Schatulle bezahlen muss.«

Milord reagierte, als gäbe es überhaupt keine Kosten. Es kam nur ein weiterer Ausbruch von ihm, vielleicht der bis dahin verrückteste. In einem, wie Anwesende es beschrieben, gewaltigen Zornesausbruch schleifte er den Priester Le Ferron in Ketten aus dem Schloss in Saint-Etienne und brachte ihn in das Verlies seines eigenen Schlosses in Tiffauges. Dort unterwarf er Le Ferron Folterungen und Demütigungen, die schlimmer waren als alles, was er seinen ärgsten Feinden angetan hatte, und die Kunde davon erreichte Le Ferrons Bruder Geoffrey, der, wie nicht anders zu erwarten, über alle Maßen darüber empört war.

»Aber warum nach Tiffauges?«, fragte ich verärgert.

»Weil es außerhalb der Gerichtsbarkeit von Herzog Jean liegt«, erwiderte Jean de Malestroit. »Der einzige andere Ort, an den er ihn hätte bringen können, ist Pouzages. Champtocé hat er wieder verloren.«

Seine Herrschaft über Tiffauges und Pouzages war eine künstliche, da sie eigentlich seiner Gemahlin gehörten, die es ihrem verzweifelten Gatten nicht gestattet hatte, sie zu verkaufen. Ich bedauerte Madame Catherine – das taten wir alle. Sie war ein Geist von einer Frau, ein formloses Ding ohne Einfluss, immer so still und mürrisch. Obwohl Gilles ihr eine Tochter gezeugt hatte, wie es seine Pflicht war, bin ich mir sicher, dass sie beide nur zähneknirschend den Akt durchgestanden hatten, dessen Frucht die kleine Marie war. Ironischerweise war das kleine Mädchen ein süßes und liebes Kind und für mich fast so etwas wie die Enkelin, die ich nie haben würde. Ich wunderte mich oft, wie dieses Mädchen Frucht einer solchen Zwietracht sein konnte.

Denn Zwietracht gab es, und zwar genügend davon. Solange ich sie beobachtet hatte, hatte er nie ein freundliches Wort für sie oder zeigte ihr seine Gunst; in den besten ihrer gemeinsamen Tage konnte man sein Verhalten ihr gegenüber kaum mehr als höflich nennen. Meistens zeigte er völlige Verachtung für sie, außer was ihre Erscheinung betraf – er achtete stets in besonderem Maße darauf, dass ihre Garderobe auch eine Zierde für ihn war. Hätte er sie behandelt, wie die meisten Gatten edlen Geblüts ihre aus politischen Gründen Angetrauten behandelten – mit kühler Höflichkeit und Diskretion bei der Schürzenjagd –, hätten wir alle ihn mehr bewundert. Aber er versuchte, sie in Fragen des Besitzes, wo er ihre Zustimmung nötig hatte, mit Drangsal zur Unterwerfung zu zwingen, fast immer mit Jean de Craons Hilfe. Oft hörten wir seine Schreie der Nötigung durch die Kammern und Säle auf Champtocé hallen, und wir alle fürchteten um sie.

Vor etwa einem Jahr hatte Jean de Malestroit mich einmal gefragt: »Sagt mir, Guillemette, Ihr müsstet es wissen – schlägt er sie?«

Die Frage hätte mich nicht so überraschen sollen, wie sie es tat, erhob sie sich doch anlässlich eines Disputs über das Wesen der Ehe, der wiederum ausgelöst worden war durch einen skandalösen Mord. Eine gewisse Edelfrau war einmal zu oft geschlagen worden und hatte ihrem Gatten mit der Spitze eines gut platzierten und geschickt geschwungenen Dolches geantwortet. Der boshafte Schurke war nackt und sich in seinem eigenen Bett windend gestorben, vor den Augen seiner Frau, die ebenfalls nackt und von seinem verhassten Blut triefend über ihm stand. Wir alle hatten immer wieder einmal ihre blauen Flecken gesehen und ihre beschämten Blicke bemerkt, aber keine von uns hätte es je gewagt, sich einzumischen – solche Dinge gingen nur Ehemann und Eheweib etwas an, außer die Frau hatte zufällig eine mächtige Verwandtschaft. Die ihre war nicht mächtig genug, um sie vor dem Galgen zu bewahren, aber in der Folge dieser Affäre gab es viel Disput über die Frage, was Ehegatten einander schuldig sind und wie sie sich betragen sollten. Es herrschte viel Uneinigkeit unter den Teilnehmern, aber ich musste an die Frau aus Bath denken, die ihr Urteil über die Ehe in höchsten Ständen mit solcher Genauigkeit traf: In einem edlen Haushalt, so es heißt, auch nicht jede Schüssel gülden gleißt …

»Man fragt sich doch, was zwischen ihnen vorfällt«, erwiderte ich diplomatisch – inzwischen bin ich mir sicher, dass er von mir eine Bestätigung wollte und von meiner Antwort enttäuscht war.

»Bei einem Wesen, wie Milord es besitzt, besteht sicherlich die Gefahr, dass er sie von Zeit zu Zeit schlägt.«

»Aber Ihr wisst es nicht sicher.«

»Nein, Eminenz«, sagte ich. Ich erinnere mich, dass ich etwas verstimmt war über sein zugespitztes Nachfragen – ich war Milords Amme, nicht die Kammerzofe seiner Frau, als die ich zwar mehr Einsicht, aber weniger Würde gehabt hätte. »Um dies zu wissen, hätte ich in Madame Catherines Schlafkammer anwesend sein müssen. Milord selbst war nur selten dort. Und wenn er doch einmal erschien, war ich nicht eingeladen, das kann ich Euch versichern.«

Aber der Mann war ein beharrlicher Inquisitor und wollte es dabei nicht bewenden lassen. »Keine ihrer Damen sprach davon, nicht einmal im Vorübergehen?«

Ich lächelte sehr dünn, aber mit großer Befriedigung. »Eminenz, ich bin entrüstet«, sagte ich. »Verlangt Ihr, dass ich auf solchen Klatsch höre?«

Danach stellte er keine weiteren Fragen mehr. Mich aber brachte das Gespräch dazu, dass ich mir selbst über diese Sache Gedanken machte, auch wenn es mich nichts anging. Immerhin hatte Milord, in einem Handstreich, der beinahe einen Krieg ausgelöst hätte, Madame Catherine entführt und gegen ihren Willen und den ihrer Familie zur Heirat gedrängt und ihr dann fälschlich, aber mit solchem Eifer den Hof gemacht, dass sie seine Liebesschwüre tatsächlich zu glauben begann. Als sie schließlich vor einem Priester standen (der mit der Spitze eines Schwertes überzeugt wurde, die Zeremonie gegen die Befehle ihre Familie durchzuführen), war Catherine de Thouars bereit, dem Baron Gilles de Rais ihre liebende Ergebenheit zu schwören. Man stelle sich ihre Enttäuschung vor, als das wahre Wesen ihrer Ehe sich zeigte.

Doch falls Milord sie in dieser Besitzangelegenheit misshandelt hatte, so hatte es nicht den gewünschten Erfolg, denn Pouzages und Tiffauges blieben fest unter ihrer Herrschaft. Dennoch musste er ihr in der Folge seines Überfalls auf Saint-Etienne etwas angetan haben. Vielleicht aber schämte sie sich so sehr, dass sie nicht länger in der Bretagne bleiben konnte. Sie floh in das Stadthaus eines Cousins in Pouzages in Frankreich und nahm die zehnjährige Marie mit sich, so dass Gilles de Rais allein und wütend zurückblieb.

 

Ich fragte mich, was Jean in dem geschützten kleinen Königreich des Papstes in Avignon über die Entwicklungen hier denken mochte. Ich bange um Milord, schrieb ich, ich bange um seine Seele. Haben dich auch andere Nachrichten über diese Sache aus andern Quellen erreicht, fragte ich ihn, und falls ja, was sagen sie darüber? Wir haben versucht, verschwiegen zu sein, aber Gerüchte haben Flügel …

Als ich nach der Frühmette zu Jean de Malestroit ging, um ihm diesen Brief zur Beförderung nach Avignon zu übergeben, fand ich ihn in einem Zustand tiefer Versunkenheit, wie er sie normalerweise nur für wichtige Staatsgeschäfte oder ernste Glaubensangelegenheiten aufbringt. Das Blatt vor ihm auf dem Tisch war von klumpiger Qualität und merkwürdiger Form, als hätte der Schreiber es selbst gefertigt. Ich hätte ihm nicht viel Beachtung geschenkt, wäre Seine Eminenz nicht derart vertieft darin gewesen.

Ich wartete schweigend, wie es meine Pflicht war; als er zu Ende gelesen hatte, legte er das Blatt hin und rieb sich einige Augenblicke die Augen. Dann bedeckte er das Gesicht mit den Händen und seufzte durch die Finger.

»Eminenz?«, fragte ich leise.

Er hob das Gesicht nicht; es blieb in seinen Händen vergraben.

»Ja«, kam die dumpfe Erwiderung.

»Ihr seid in Sorge …«

Er schaute mich an. »Das dürfte Euch im Augenblick doch kaum überraschen.«

Er klopfte auf das Pergament und deutete mit einen Nicken an, dass ich selbst einen Blick darauf werfen sollte. Dann stand er auf und bot mir zum Lesen seinen Platz an.

Die Schrift war derb, und es gab keine Unterschrift. Aber die Beschreibungen waren lebendig und konnten kaum ausgedacht sein, außer vielleicht von einem außergewöhnlich begabten Geschichtenerzähler. Drei Beispiele für Hexerei, in deren Verlauf Milord angeblich den Satan für seine eigenen Zwecke heraufzubeschwören versuchte, wurden genannt.

Meine Hände zitterten, als ich das Blatt las.

Sie nahmen Kerzen und einige andere Gegenstände, wie auch Lehrbücher, und mit diesen Bänden als Anleitung zogen sie mit der Spitze von Milords Schwert mehrere große Kreise. Nachdem dies getan und eine Fackel entzündet worden war, verließen alle außer dem Zauberer und Milord das Zimmer. Sie stellten sich, in einem gewissen Winkel zur Wand, in die Mitte der Kreise, woraufhin der Zauberer ein weiteres Zeichen in die Erde ritzte mit brennender Kohle, welche sie mitgebracht und darauf Magnetit und Aromen gestreut hatten, worauf ein süßer, berauschender Rauch sich erhob …

Der Zauberer. Ich stand auf, als ich geendet hatte, und gab ihm das grobe Pergament zurück. »Glaubt Ihr das?«

Er zögerte leicht. »Die Vorfälle sind insgesamt so klar beschrieben, dass man Grund hat, das alles für möglich zu halten.«

Die Antwort auf meine nächste Frage war mir wohl bekannt, aber ich stellte sie trotzdem, wohl deshalb, weil ich Besseres erhoffte. »Was ist jetzt zu tun?«

Er ging in der Kammer auf und ab, doch seine Schritte machten kein Geräusch. »Diese Beschuldigungen sind so schwer wiegend, dass es meine Pflicht ist, wenn nötig auch gegen meinen eigenen Willen, sie offiziell zu untersuchen. Da der Sachverhalt der Ketzerei so glaubhaft aufgeworfen wurde … Herzog Jean wird von mir verlangen, dass ich gegen ihn vorgehe.«

»Der Vorwurf der Ketzerei muss von einem Richter der Inquisition verfolgt werden«, sagte ich, während mir Tränen in die Augen stiegen. »Ob vorzugehen ist oder nicht, habt Ihr, und Ihr ganz allein, zu entscheiden.«

Er würde es von sich selbst verlangen, daran hatte ich keinen Zweifel.

»Nicht ich habe das zu entscheiden, Schwester«, behauptete er, »sondern Gott.«

Mit zitternder Stimme flüsterte ich: »Ich weiß nur zu gut, wie das ausgehen wird. Gott entscheidet immer auf eine Art, die mir und den Meinen nicht gnädig ist.«

»Ihr müsst mehr Glauben haben. Gott ist gnädig zu allen seinen Geschöpfen, aber oft erkennen wir Seine Gnade nicht, wenn sie uns begegnet. Doch keiner von uns kann sich verstecken – wir müssen uns fügen mit Bereitwilligkeit und Demut.«

Von Gilles de Rais würde es für diese Gnade Gottes weder Bereitwilligkeit noch Demut geben. Angesichts seines mit Sicherheit drohenden Untergangs wagte Milord seinen dreistesten Schachzug- und wenn nicht dreist, dann ohne jeglichen Zweifel wahnsinnig. Er suchte Herzog Jean auf.

 

Dreistigkeit war ihm nicht fremd, und Wagemut auf keinen Fall; es heißt, wenn Jeanne d’Arc es von ihm verlangte, habe er gekämpft wie Ariel, Gottes eigener Löwe. Am vierten Tag des Mai im Jahre 1429 traf der junge Milord de Rais zusammen mit Baron Dunois und der Verstärkung sowie den Vorräten, die die Armeen der Jungfrau brauchten, falls es überhaupt noch Hoffnung auf Sieg geben sollte, in Orléans ein. Auf einem Feld vor der Stadt empfing die Jungfrau Jeanne sie in der Gesellschaft vieler angesehener Edelleute, darunter Sainct Severe und der Baron de Coulonces, alles höchst lösegeldträchtige Männer, deren Gefangennahme für jeden Engländer eine Großtat gewesen wäre. Zusammen mit dem Bastard Charles ritten all diese Herren direkt vor den Augen der Engländer in die Stadt Orléans zurück. Es musste wohl als das größte ihrer Wunder betrachtet werden, dass gegen sie kein Schwert erhoben, kein Speer geschleudert und kein Pfeil geschossen wurde.

Doch am selben Tag erhielt Baron Dunois die Nachricht, dass der englische Hauptmann John Fastolf mit frischen Truppen und Vorräten unterwegs sei, und so erklärte sich, warum die Engländer nicht angegriffen hatten – sie hatten sich in Erwartung der Verstärkung weise zurückgehalten.

Dunois eilte sogleich in die Gemächer der Jungfrau, um ihr von dieser Besorgnis erregenden Wendung der Ereignisse zu berichten, erzählte mir Etienne. Er war schier außer sich vor Verzweiflung. Sie bat Dunois, ihr mitzuteilen, wenn Fastolf eingetroffen sei, und dann begab sie sich, da sie völlig erschöpft war, in das Bett, das sie mit ihrer Gastgeberin teilte. Wie kann ein Krieger sich schlafen legen, wenn so etwas bevorsteht. Soldaten tun so etwas nicht!

Dieser Soldat war ein junges Mädchen, sagte ich meinem Gatten. Sie brauchte Ruhe.

Wir alle hielten das für widersinnig – töricht jenseits aller Vorstellung! Dass ein Krieger sich nicht bereitmacht, wenn eine Schlacht droht …

Ihre Ruhe sollte nicht lange dauern. Kaum hatten ihre Zofen und ihre Gastgeberin sie verlassen, schrak sie hoch und hielt sich den Kopf – neuerlich kreischten die Stimmen in ihr. Sie hatte eine hitzige Schlacht sich entwickeln gesehen und gehört, doch sie schwor bei der Heiligen Jungfrau, es sei eine Vision gewesen, kein Traum, deshalb sprang sie von ihrem Lager auf und lief nach draußen, um in Erfahrung zu bringen, ob diese Schlacht tatsächlich im Gange sei. Dort wurde sie von einer neuen Vision erfasst; sie stürzte, den Kopf zwischen den Händen, zu Boden und schrie: Les voix, les voix! Die Stimmen gaben ihr Befehle, aber sie wusste nicht, was Gott von ihr wollte. Sollte sie Fastolf, der seine Anwesenheit noch nicht kundgetan hatte, abfangen, oder sollte sie eine andere Schlacht suchen? Ihr schrilles Klagen der Unentschlossenheit weckte jeden in ihrer Unterkunft und alle in der näheren Umgebung.

Aber dann erhob Jeanne d’Arc sich aus ihrer Verwirrung; sie legte ihre weiße Rüstung an und ritt zum Burgoyner Tor hinaus, von wo aus man Flammen in den Himmel lodern sah. Schwache Kampfgeräusche kamen aus dieser Richtung, und bevor jemand sie daran hindern konnte, ritt sie darauf zu. Ihre Zofe alarmierte die Herren, deren Armeen zu ihrer Unterstützung zusammengezogen worden waren, darunter auch Gilles de Rais, der, so Etienne einen Strom von Flüchen losließ, der die Blätter der Bäume hätte verwelken lassen können. Hätte die Jungfrau ihn in diesem Augenblick gehört, hätte sie ihn wohl von ihrer Seite verbannt, denn eine solche Sprache hatte sie ihren Truppen streng verboten. Alles wäre verloren gewesen.

Ich konnte mir die deftigen Worte, die an diesem Tag über seine Zunge flossen, nur vorstellen, Etienne wollte sie nicht wörtlich wiederholen, denn keine Frau sollte sie hören, vor allem nicht seine Gemahlin. Aber ich wusste Bescheid – Milord hatte eine unverwechselbare Sprache. Von frühester Kindheit an entgeisterte er mich mit Flüchen, so vulgär wie jene, die sein viehischer Großvater beständig von sich gab.

Mich schauderte bei dem Gedanken, dass, wäre Jeanne d’Arc in diesem Augenblick nicht außer Hörweite gewesen, Frankreich womöglich verloren gewesen wäre, denn es war Milord Gilles, der sie an diesem Tag vor dem sicheren Tod errettete. Hätte sie ihn fortgejagt, wer weiß, wie alles ausgegangen wäre.

Am Tor fand sie die Bürger der Stadt in einer offenen und blutigen Schlacht – die Narren hatten sich aus eigenem Antrieb gegen die verhassten Engländer geworfen. Sie wussten nicht, wie man kämpfte, und hatten keine Waffen außer ihren Knüppeln und Sensen, so dass die Jungfrau, als sie dort ankam, überall um sich herum Tote und Verwundete liegen sah in dem Schlamm, der so vom Blut getränkt war, dass er förmlich rot glühte. Eine Weile saß sie wie gelähmt auf ihrem Pferd und betrachtete weinend die Legionen der Gefallenen, so zumindest die Berichte der wenigen Überlebenden, die sie dort gesehen hatten. Es heißt, dass sie in diesem Augenblick verzweifelt ihre Sünden hatte beichten wollen, noch bevor dieser Tag bitterer Sündhaftigkeit zu Ende gegangen war. Doch Gott riss sie aus ihrem Wahn – dies an und für sich schon ein Wunder – und brachte sie dazu, den Befehl über jene Bürger zu übernehmen, die überlebt hatten.

Doch nun hätte Gott sie beinahe verlassen. Der englische Befehlshaber Talbot erkannte die Gelegenheit und schickte Truppen aus, um sie von hinten anzugreifen. Nun war sie, ohne Rückzugsmöglichkeit, zwischen feindlichen Kräften gefangen. Als Milord von dieser schrecklichen Situation erfuhr, ritten er und der vagabundierende Krieger La Hire direkt zu Saint-Loup. Sie kamen von hinten und griffen die Engländer mit derselben Boshaftigkeit an, die diese beim Niedermetzeln jener Städter angewandt hatten, die Jeanne vor einer Stunde noch beweint hatte. Jeanne wandte nun die Überreste ihrer eigenen Truppen ebenfalls gegen die Engländer, und nun saß der Feind in ebenjener Falle, die er ihr zuvor gestellt hatte.

Wäre Milord ihr an diesem Tag nicht zu Hilfe geeilt, wäre der Bastard Charles wohl nie gekrönt worden. Wir blieben Sieger in dieser Schlacht, obwohl alles gegen uns stand, und das war vorwiegend ein Verdienst von Gilles de Rais.

Die Platten mit unserem Abendessen standen vor uns auf dem Tisch. Nach einem leisen, höflichen Rülpser überraschte Jean de Malestroit mich mit einer Enthüllung. »Milord hat seinen Bediensteten gesagt, er sei nach Josselin gegangen, um Gelder einzufordern, die der Herzog ihm noch schulde. Doch niemand lässt sich zum Narren halten. Viele seiner Diener haben schon lange keinen Lohn mehr erhalten, und sie murren mächtig.«

»Ihr müsst Spitzel unter ihnen haben.«

Jean de Malestroit leugnete es nicht, sondern wechselte das Thema. Er wischte sich den Mund mit einer serviette und schob den Teller weg. »Die Stunde der Vespern ist nah«, sagte er. »Wir müssen uns um die Vorbereitungen kümmern.«

Ich konnte nichts anderes tun, als den Blick zu senken und zu nicken. Gemeinsam erhoben wir uns mit raschelnden Gewändern. So ergeben wie immer folgte ich ihm aus der Kammer.

Doch als wir draußen waren, täuschte ich Vergesslichkeit vor und sagte: »Ach du meine Güte, das wäre mir beinahe entfallen. Schwester Elene wollte mich unbedingt sehen, ich glaube, es geht um Haushaltsdinge.«

»Nun, dann sputet Euch. Gott wartet nicht gerne.«

Ich nickte. Dann wandte ich mich nach einer schnellen Verbeugung von ihm ab, gerade noch rechtzeitig – mit den Röcken in der Hand eilte ich den Gang entlang, bis ich weit genug weg war, so dass er mein Schluchzen nicht hören konnte.

 

Der Innenhof war dunkel und still; eine leichte Brise brachte Erfrischung nach der Hitze des Tages, die noch drückend auf allem lastete. Das Mysterium der Messe wohnte noch in mir.

»Ich habe eben verlockende Neuigkeiten gehört«, sagte Frère Demien, als wir langsam zum Kloster gingen. »Ich habe erfahren, dass Eustache Blanchet schon vor einiger Zeit aus Machecoul geflohen ist.«

»Nein«, erwiderte ich. »Das würde er nie tun.«

»Doch. Nach Mortagne – es heißt, er wollte Milord den Dienst aufkündigen.«

Es heißt.

Das würde seine Abwesenheit bei den Osterfeierlichkeiten erklären. »Aber warum? Er liebte doch seine Stellung als Milords Priester, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie aufgibt.«

Frère Demien schien ähnlich verwirrt und zuckte nur die Achseln. »Wer weiß, Schwester. Aber es ist in der Tat unheimlich. Vielleicht tat er es unter Zwang. Inzwischen ist Blanchet wieder in Machecoul, aber offenbar herrscht kein Frieden zwischen ihnen.«

Die verwegenen oder verzweifelten Taten eines gemeinen Mannes sind nicht immer der Stimme eines Ausrufers wert, aber die eines Priesters ziehen besondere Aufmerksamkeit auf sich, vor allem unter seinen Vorgesetzten. Ich frage mich, warum Jean de Malestroit es mir vorenthalten hatte.

Als ich später Blanchets persönliche Zeugenaussage hörte, verstand ich.

Poitou und Henriet brachten François Prelati und mich von unserer Unterkunft in Saint-Florent-le-Vieil in Tours zu Milords Schloss in Tiffauges. Nun, in dieser Zeit suchte Lord Gilles häufig Prelatis Gesellschaft – ja, ich bestätige, dass der italienische Zauberer auf vielfache und unterschiedliche Art seine Neugier weckte, und inzwischen verfluche ich mich dafür, ihn in Milords Dienste gebracht zu haben. Als Milord in das Zimmer kam, in dem ich und einige andere untergebracht waren, gingen wir alle in ein anderes Zimmer, damit Prelati und Milord allein sein konnten. In der folgenden Nacht sah ich sie dieses Zimmer verlassen und in einen niederen Saal gehen, der direkt hinter uns lag; dort blieben sie einige Zeit. Ich hörte Rufe und Bitten des Inhalts: »Komm, Satan« oder einfach nur »Komm!« Dazu hörte ich Prelati sagen: »uns zu Hilfe …« oder ein anderes Flehen. Es wurde noch mehr gesprochen, doch ich konnte nichts davon verstehen, und dann blieben Milord und Prelati noch eine halbe Stunde in dem von vielen Kerzen hell erleuchteten Saal.

Gott stehe mir bei, binnen kurzer Zeit erhob sich ein kalter Wind und blies heftig durch das Schloss, und mit einem lauten und unheiligen Kreischen erfasste er mich. Ich dachte mir, dass dieser Sturm nur die Stimme des Teufels selbst sein kann. Deshalb suchte ich nun Rat bei Robin Romulart, der zu der Zeit ebenfalls in Tiffauges weilte. Wir stimmten darin überein, dass Milord und Prelati Dämonen beschworen und dass wir beide nichts damit zu tun haben wollten.

Am nächsten Morgen floh ich beim ersten Licht des Tages schleunigst aus Tiffauges, um dieser Unheiligkeit zu entkommen, und ging direkt nach Mortagne in das Stadthaus von Bouchard-Menard. Sieben Wochen blieb ich dort, und in dieser Zeit erhielt ich viele Briefe von Milord, in denen er mich bat, zu ihm zurückzukommen, und mir versicherte, dass ich bei ihm und Prelati noch immer in hohem Ansehen stünde. Ich weigerte mich immer wieder und beantwortete schließlich nicht einmal mehr seine Briefe; ich hatte kein Verlangen nach seiner Gesellschaft oder der von Prelati und dessen Dämonen.

In der Zeit, die ich bei Bouchard-Menard verbrachte, kam noch ein weiterer Gast, ein Jean Mercier, der Schlossvogt in La-Rochesur-Yon in Luçon war. Mercier erzählte mir, in Nantes und anderswo werde öffentlich gemunkelt, dass Milord Gilles eigenhändig ein Buch mit Blut schreibe und dass er vorhabe, mit Hilfe der Macht dieses Buches den Teufel dazu zu verlocken, ihm so viele Festungen zu schenken, wie er wünsche. Dadurch wolle er sich wieder in den ihm zukommenden Stand versetzen, und danach würde keiner ihm je wieder schaden können. Ich fragte nicht, woher das Blut für dieses Buch kam.

Schon am nächsten Tag erschien der Goldschmied Petit im Bouchard-Menard, um mich in Milords Namen aufzusuchen. Er sagte mir, dass sowohl Milord wie Prelati sich große Sorgen um mein Wohlergehen machten, und übermittelte mir ihre dringende Bitte, zu ihnen zurückzukehren. Worauf ich entgegnete, dass ich, wegen der Gerüchte, die ich gehört hatte, unter keinen Umständen zu ihm zurückkehren werde. Und ich trug Petit auf, Milord zu sagen, dass er, falls diese Gerüchte zuträfen, diese Handlungen besser vollständig und unverzüglich einstellen solle, denn es sei falsch, sich solchen üblen Praktiken hinzugeben.

Offensichtlich hatte Petit Milord und Prelati diese Botschaft überbracht, denn Milord warf den Boten sofort in den Kerker des Schlosses von Saint-Etienne, das er später dem Schatzmeister des Herzogs, Le Ferron, übergab und dann mit Gewalt wieder an sich riss. Er schickte Poitou, Henriet, Gilles de Sille und einen weiteren Diener namens Lebreton nach Mortagne, um mich zu ergreifen, wogegen ich machtlos war. Ich vermute, die Nachricht von Petits Gefangennahme hätte mich wachsamer machen müssen – es wäre wohl klug gewesen, wenn ich zu der Zeit aus Mortagne geflohen wäre.

Aber ich tat es nicht, und Gott allein weiß, warum. Milords Männer brachten mich bis nach Roche-Servière, und erst dort sagten sie mir, dass ich ebenfalls in Saint-Etienne eingekerkert werden würde und dass Milord mich töten lassen werde, weil ich derartigen Klatsch und üble Gerüchte in die Welt gesetzt hätte. Woraufhin ich mich standhaft weigerte weiterzugehen, denn ich hatte keine Gerüchte verbreitet, wie er mir vorwarf. Ich drohte derartige Vergeltungen an, wie ich sie unmöglich hätte ausführen können, doch aus einem unheimlichen Grund zeigten sie die gewünschte Wirkung auf meine Häscher. Ich vermute, alle Männer glauben, dass Priester eine gewisse Macht besitzen, die andere nicht haben, doch welche göttliche Macht ich auch einst besessen haben mochte, wurde sicherlich vernichtet durch meinen Verkehr mit Männern, die wir inzwischen als Ketzer kennen. Sie taten mir nichts, sondern brachten mich direkt zu Milord nach Machecoul, wo ich zwei Monate lang gegen meinen Willen festgehalten wurde.

 

Gilles de Rais verließ Josselin unbeschadet, zumindest körperlich. Was für eine Auswirkung die Audienz auf seine Gemütsverfassung gehabt haben mochte, konnte ich nicht sagen, aber ich stellte mir vor, dass Milord – angesichts der verzweifelten Situation, in der er sich befand – über den unglücklichen Ausgangs des Gesprächs zwischen ihm und Herzog Jean sehr wütend sein musste. Falls Eminenz etwas wusste, sagte er mir nichts. Unsere täglichen Pflichten erledigten wir mit zur Schau getragener Gelassenheit, doch darunter lag ein brodelnder Kessel der Neugier.

Morgenmette, Vespern und alles, was dazwischen lag – das war mein Leben. Ich brachte meine Zeit damit zu, zwischen dem Kloster und dem Palast hin und her zu gehen und von einer Pflicht zur nächsten zu wechseln. Eines Abends auf dem Weg zum Kloster hörte ich in der Ferne einen Reiter. Ich hatte eben den Bogengang betreten, der den Hof säumt und direkt zum Konvent führt, und stellte mich in den schützenden Schatten, als das Geräusch schneller Hufe an meine Ohren drang, zuerst nur schwach, dann Furcht erregend anschwellend, bis die Erde unter meinen Füßen ob der Gewalt der Tritte erzitterte, lange bevor der Verursacher – ein Reiter, der auf den Hof donnerte – sich zeigte. Von irgendwo aus einem anderen Schatten tauchte ein Stallknecht auf, der das schäumende Pferd an die Kandare nahm, während der Reiter absprang.

Meine Neugier brannte; ein Reiter aus Avignon würde sich nicht so beeilen, außer die Gerüchte über die Gesundheit Seiner Heiligkeit wären tatsächlich wahr. Aber der Himmel war noch nicht eingestürzt, und ich nahm deshalb an, dass sie nicht stimmten.

Die Nacht brachte ich mit schlaflosem Grübeln zu, und wenn mir doch einmal die Augen zufielen, schlief ich schlecht. Als ich am nächsten Morgen den Bischof aufsuchte, war ich stachelig wie ein Dornenbusch. Die gewohnten allmorgendlichen Höflichkeiten, ansonsten ein tröstendes Ritual, schienen mir plötzlich eine lästige Verstiegenheit zu sein.

»Der Bote«, sagte ich wissbegierig.

Jean de Malestroit schien überrascht. »Es gibt nichts Neues aus Avignon, außer dem, was ich Euch bereits gegeben habe«, sagte er mir.

»Nein, Eminenz, der Reiter, der gestern Abend ankam, als ich mich eben zur Ruhe begab …«

Nach einer Pause sagte er: »Ach. Dieser Bote. Ich habe mich schon gefragt, ob jemand ihn gesehen hat.«

»Er kam herangejagt wie ein Gewitter. Man konnte ihn unmöglich überhören.«

»Ach ja … nun, ich werde wohl Vorschriften erlassen müssen bezüglich der Ankunft von Reitern, damit niemand gestört wird.«

»Kam er aus Josselin?«

Er nickte langsam und wühlte dann in Pergamenten, als wollte er meine Fragen vereiteln.

»Nun, was hatte er zu sagen?«

Jean de Malestroit begann sich zu winden, als wäre ihm unbehaglich zumute. Schließlich sagte er: »Ich muss Euch leider sagen, dass Herzog Jean keine Einzelheiten seiner Begegnung mit Gilles de Rais verlauten ließ. In dem Brief, den er sandte, teilte er nichts von Bedeutung mit, außer dass Milord Gilles seine Hilfe und Unterstützung bei der Lösung des Problems mit Saint-Etienne erbeten hatte.«

»Die er natürlich nicht erhielt, gleichgültig, welche Gegenleistung er auch versprach.«

»Nein, die erhielt er nicht. Und er hat in Bezug auf Gegenleistungen nichts mehr anzubieten. Keine Mittel, mit denen er noch schachern könnte.«

Ich hatte nicht gewusst, dass sein Vermögen bereits derart geschwunden war. »Aber …«, sagte ich, »er hat doch sicherlich mehr gesagt …« Mir fehlten die Worte, ich wusste nicht, wie ich ihm das Wissen entlocken sollte, wonach ich so verlangte. Er vermied geschickt zu erwähnen, wie zu verfahren man ihm aufgetragen hatte, was völlig unabhängig war von dem in Josselin Vorgefallenen, aber mit Sicherheit in diesem dringenden Schreiben enthalten gewesen war. Er wandte sich von mir ab und ging zu seinem Schreibtisch, der von einem Ende zum anderen mit Pergamenten übersät war. Sobald er sich wieder in sie vertieft hätte, würde ich nicht mehr zu ihm durchdringen können.

Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen, als ihn unverblümt zu fragen. »Sollt Ihr gegen Milord vorgehen?«

Wieder antwortete er mir nicht direkt. »Ich wurde über Milords Bewegungen informiert«, sagte er. »Er hat das Schloss unbeschadet verlassen, ist aber noch nicht nach Machecoul zurückgekehrt; gestern quartierte er sich in dem Haus ein, in dem er auch bei seinem letzten Besuch in Josselin wohnte, dem Haus eines Mannes namens Lemoine vor den Mauern von Vannes.«

»Ich kenne dieses Haus – ein prächtiger Landsitz.« Ich konnte mir gut vorstellen, dass Milord in diesem vornehmen und prunkvollen Haus Zuflucht suchte. »Aber ich frage mich, warum er sich dort versteckt.«

»Buchet«, erwiderte Seine Eminenz.

Später sollten wir durch Poitou von dem Einfluss erfahren, den Buchet auf Gilles de Rais hatte.

Buchet brachte einen Jungen von etwa zehn Jahren zu Milord in Lemoines Haus, wo Milord sich dem Kinde fleischlich näherte. Er übte seine Lust auf den Knaben auf dieselbe Art aus, wie er es bei so vielen anderen getan hatte. Zuerst machte er sein Glied steif, indem er es mit beiden Händen rieb, dann schob er es zwischen die Schenkel des Jungen und benutzte die unnatürliche Öffnung des Knaben, um sich Erleichterung zu verschaffen. Währenddessen hing dieser Knabe an einem Seil, das um seine Hände gebunden war, von einem Deckenbalken. Ich hatte den Knaben mit einem Knebel, den ich ihm in den Mund steckte, stumm gemacht. Deshalb schrie er nicht, aber seine Miene war voller Angst und Verzweiflung.

Als Milord mit dem Knaben fertig war, befahl er Henriet und mir, ihn zu töten. Aber in Lemoines Haus gab es keinen Ort, wo man das hätte tun können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Wir brachten deshalb den Knaben in das nahe gelegene Haus eines Mannes namens Boetden, wo die Edelknappen, die uns auf der Reise begleiteten, untergebracht waren. Wir wussten, dass dieser Wirt uns dort freie Hand lassen und nichts von dem verraten würde, was er sah oder hörte. Milord schien eine Schar von solchen Komplizen im ganzen Land zu haben, einen in beinahe jeder Gemeinde, die wir besuchten, doch wie er sie findet und wodurch er sich ihre Mitarbeit sichert, ist mir nicht bekannt.

In Boetdens Haus trennten wir den Kopf des Jungen vom Körper ab. Entweder war das Messer stumpf, oder seine Halsknochen waren sehr kräftig, denn es war eine elende Arbeit. Milord wurde sehr niedergeschlagen und ängstlich, deshalb verbrannten wir den Kopf gleich in dem Zimmer, wo die Tötung stattgefunden hatte. Doch wie sollten wir uns des Körpers entledigen, ohne dass jemand außer dem Wirt uns dabei beobachtete? Boetdens Haus befand sich in der Nähe der Dorfmitte und war ziemlich ungeschützt, wir konnten unsere Arbeit also nicht draußen erledigen. Schließlich kam mir der Gedanke, dass man die Leiche in der Latrine dieses Hauses versenken sollte, und als ich dies aussprach, stimmten die anderen mir zu. Also banden wir dem jungen seinen eigenen Gürtel um und ließen ihn in das Loch hinab.

Zu meiner großen Bestürzung war der Unrat jedoch nicht tief genug, um die Leiche ganz zu bedecken. Ein Teil stand heraus, als kopfloser Zeuge dessen, was man ihm angetan hatte.

Ich wurde unter großen Schwierigkeiten von Henriet und Buchet in die Grube hinabgelassen, während sie oben blieben, um mein Absenken besser überwachen zu können. Mit viel Mühe und Plackerei gelang es mir endlich, den Leichnam so tief zu versenken, dass er von oben nicht mehr zu sehen war. Als ich dann wieder aus der Grube gezogen wurde, erbrach ich mich, bis ich meinte, mein Magen würde mir aus dem Körper springen.

Die Schreckenskammer
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